Reden Sie ihren Kunden den Visitor aus! Besucher sind nicht valide messbar und taugen als KPI nicht

Immer wieder lese ich über Visitor-Zahlen, dabei sind diese kaum bestimmbar – und wenn, dann nur unter eng eingegrenzten Bedingungen. Schon seit über zehn Jahren versuche ich, die Kennzahl – KPI – bei meinen Jobs zu vermeiden. Sie taugt einfach nicht. Es ist ein wenig wie bei diesem so wichtigen Satz auf der ersten Seite von Ludwig Wittgensteins Tractatus: „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.“ Für die Digital Analytics heißt dies übersetzt: „Was sich messen lässt, lässt sich klar messen: und was man nicht messen kann, davon muss man schweigen.“

Damit möchte ich ausdrücken, dass sich Web- oder Digital Analytics Spezialisten keinen Gefallen tun, wenn sie mit Kennzahlen arbeiten – um nicht hantieren zu schreiben – die kaum valide bestimmbar sind. Sicher, in der letzten Auflage meines Buchs „Marketing-Instrument Internet“ habe ich 2003 geäußert, dass das Cookie wohl die beste Annäherung bringt. Der Hintergrund war zu diesem Zeitpunkt ein anderer: Es gab weder viele Mobilgeräte noch die grundsätzliche Verweigerungshaltung gegenüber Cookies in vielen Bereichen. Diese trägt dazu bei, dass Nutzer im Grunde nur noch im eingeloggten Zustand einigermaßen valide messbar sind. Ich drösele den Zusammenhang hier auf, denn es hat – wenn es um Messzusammenhänge mit Menschen geht – immer eine sozialwissenschaftliche Komponente, die wir bei aller Begeisterung über die so tollen Möglichkeiten der Technik zu leicht vergessen.

Was sind Besucher oder Visitors?

Also – wenn wir von Besuchern oder Visitors reden, dann geht es um einen Head Count. Wir sollen also Köpfe zählen. Sind dies beispielsweise Brutto- oder Nettowerte? Vielleicht kennen Sie dies von der Zählung von Messebesuchern. Bei mehrtägigen Messen ist es üblich Messebesucher, die an mehreren Tagen das Messegelände betreten, auch mehrfach zu zählen. Einen expliziten Hinweis darauf, oder die Darstellung von Brutto- und Nettowerten, gibt es leider nur in seltenen Fällen. Diese Zahlen sollen aus der Sicht der Veranstalter möglichst hoch wirken. Nun ist dies bei Messen nicht so tragisch. Dies laufen in der Regel über wenige Tage und sie sind meist individuell. Die Zahl der Besucher pro Messetag ist eine sehr gute Maßzahl. Bei Websites werden normalerweise auch größere Zeiträume beobachtet und analysiert. Dabei wäre eine Mehrfachzählung nur wenig zielführend. Genau darauf läuft es jedoch hinaus, wenn wir kommentarlos die Visitor-Zahlen weitergeben und der Empfänger der Zahlenwerke vielleicht auch noch ernsthaft versucht, damit zu arbeiten. Dass das Cookie zur Messung kaum taugt, habe ich in einem früheren Beitrag beschrieben. Dabei ging es weitgehend um technische Fragestellungen. Möglicherweise hilft es ja, wenn ich hier nochmal den sozialen Kontext integriere. Ich will damit eine Argumentationshilfe bauen, damit Visitor- oder Besucher-Kennzahlen – KPIs – aus Reports herausargumentiert werden können, solange die Werte nicht annähernd valider bestimmbar sind.

Vom Zielgruppen-Dashboard in Google Analytics bleibt nicht mehr viel übrig, wenn die Kennzahl "Nutzer" nichts taugt!
Vom Zielgruppen-Dashboard in Google Analytics bleibt nicht mehr viel übrig, wenn die Kennzahl „Nutzer“ nichts taugt!

Ein Besucher, mehrere Endgeräte

Wir sollen bei der Bestimmung des Visitors also Köpfe zählen. Diese Besucher benutzen jedoch deutlich mehr Endgeräte als noch vor 15 Jahren. Denken Sie bitte daran, wie viele Endgeräte Sie selbst benutzen, um Websites zu besuchen! Im Büro gibt es oft ein Notebook oder einen Arbeitsplatzrechner. Unterwegs ein Mobiltelefon und vielleicht noch ein Tablett. Wobei, bei vielen meiner Kollegen beobachte ich mittlerweile das Zeitgerät. Zuhause gibt es dann ein weiteres Notebook oder vielleicht eine Gaming-Maschine und ein Tablet. Wie ist das? Sind alle Browser brav bei Google eingeloggt und synchronisieren sich diese über Gerätegrenzen hinweg oder etwa nicht? Lassen sie möglicherweise Safari grundsätzlich als „Neutral-Browser“ laufen, um einfach einen nicht getrackten Zustand simulieren zu können? Haben Sie für die berufliche Nutzung Edge, weil der Arbeitgeber irrigerweise nichts anderes erlaubt? Trennen Sie beruflich und privat durch Chrome und Firefox? Wie auch immer – als Digitala oder Digitalo würden und werden Sie mehrfach gezählt. Nein – haben Sie tatsächlich all ihre Browser auf allen Geräten synchronisiert? Sie vielleicht, aber nicht alle Nutzer. Und da haben wir den Salat. Die Zahl der Besucher wird aufgrund der Nutzung mehrerer Endgeräte übermessen. Hierdurch werden also mehr Visitors ausgewiesen, als es tatsächlich sind.

Wenn Sie nun an Menschen denken, die nicht in Büros arbeiten… Wie ist die Situation hier? Ein Smartphone haben diese auch alle. In den meisten dieser Haushalte gibt es wenigstens noch ein weiteres Gerät, entweder ein Notebook, einen Desktop-Rechner oder ein Tablet. Auch hier kann es zu einer Mehrfachzählung kommen.

Ein Endgerät, mehrere Besucher

Oft kommt es hierbei zu einem gegenteiligen Effekt. Wenn nicht jedes Haushaltsmitglied seinen eigenen Rechner hat, wird dieser geteilt. Ob dann verschiedene Nutzerkonten für verschiedene Nutzer angelegt wurden, kann durch einfache Methoden der Web-Analytics nicht belegt werden. Gerade bei Menschen, die keinen Bürojobs nachgehen oder vielleicht schon in Rente sind, wird eine solche Situation oft treffend sein. Wenn unterschiedliche Menschen das gleiche Endgerät (am gleichen Tag) benutzen, wird die Zahl der Besucher untermessen. Es werden also weniger Visitors ausgewiesen, als es tatsächlich sind.

Man könnte nun die Meinung vertreten, dass sich beide Effekte aufheben – die Unter- und Übermessung sich also aufheben und wir dadurch einen der durchschnittlichen Realität entsprechenden intersubjektiven Mittelwert als Resultat bekommen. Nur haben wir nicht die geringsten Belege dafür, dass sich die Abweichungen nach oben und unten ausgleichen, also sollten wir nicht der Versuchung erliegen, dies anzunehmen. Allerdings ist dies schon seit gut 20 Jahren gängige Praxis. Besser wird es dadurch immer noch nicht. Auch der Verweis auf die Unzulänglichkeiten der sozialwissenschaftlichen Offline-Befragungsmethoden halte ich für nicht angebracht. Entweder macht man seine Arbeit gut und transparent oder man lässt es.

Die Cookie-Falle

Neben diesen Faktoren, die durch das Verhalten der zu messenden Besucher begründet sind, gibt es noch leidige technische Unzulänglichkeiten. Zur Messung der Besucher wird das Cookie herangezogen. Dabei ist es noch mehr als bei den oben genannten Fehlerquellen so, dass das Cookie-Verfahren hinsichtlich der validen Messung von Nutzern mehr Verwirrung schafft, als es wertvolle Schlüsse zulässt, denn Nutzer können es ablehnen oder blockieren. Mitunter blockiert es auch der Browser ohne Zutun der Nutzer. Diese können der Verwendung zustimmen und doch wird der Keks nach kurzer Zeit gelöscht. Wenn, dann funktioniert es am besten, wenn man Nutzer zu einem automatischen Login bewegt, denn dann kann man diesen Teil der eingeloggten Nutzer sauber analysieren. In diesem Fall gibt es also zwei Töpfe: Den der eingeloggten Nutzer und den der Nutzer oder Cookies, bei denen man nicht wirklich Genaues sagen kann. Sicher – es ist möglich, einen Schritt weiterzugehen und Auswertungen über die IMEI und entsprechende Synchronisationen durchzuführen. Ich sage ja auch nicht, dass dies im Detail unsinnig ist. Es ist ein Herantasten an die valide Messung realer Situationen. In einem früheren Beitrag bin ich auf die Cookie-Problematik genauer eingegangen.

Besucherzahlen: Kennzahl richtig oder gar nicht verwenden!

Was mir wichtig ist: Berater sollten ihren Kunden dringend die Arbeit mit den Kennzahlen bzw. KPI „Besucher“, „eindeutige Besucher“ in den Standard Reports von Google Analytics ausreden. Eine valide Messung ist nur unter eng abgesteckten Bedingungen möglich. Da ist es eher hinderlich, wenn Google die Kennzahl in GA überhaupt global ermöglicht und es kein Verfahren, gibt den Wert aus den Standard Reports zu verbannen.

Auswege, die bleiben, sind:

  • Möglichst viele Nutzer zu einem (automatischen) Login zu bewegen und diese in speziellen Reports analysieren. Das Login-Verfahren betreiben viele Online-Publikationen, die mit Werbung einen Teil ihrer Einnahmen erzielen.
  • Den direkten Zugriff auf Google Analytics verbieten und Zahlenwerke an anderer Stelle zu zeigen, seien es Tableau, Qlik, DataStudio etc.
  • Dem Kunden bzw. Unternehmen mit genauer messbaren Kennzahlen sichere Entscheidungshilfen geben. Hierzu werde ich mich in einem weiteren Beitrag beschäftigen.

Damit sind wir wieder bei Wittgenstein: Sagen Sie, was Sie sicher messen können. Und über das, was Sie nicht messen können, sollten Sie schweigen! Da nun mal das Kind schon recht lange in den Brunnen gefallen ist, nochmal meine eindringliche Bitte: Erklären Sie Ihren Kunden oder Chefs, dass die Visitors nicht messbar sind und man sich sogenannte Besucherzahlen als KPI ohne entsprechende Rahmenbedingungen getrost in die Haare schmieren kann.