Nur noch kontextbasierte Werbung in Europa?
Was bewirkt Mikro-Targeting?

Kürzlich wurde die „Tracking-Free Ads Coalition“ gegründet. Ziel: Verbannen des Micro-Targeting aus der EU. Der Bann soll Teil des „Digital Services Act (DSA)“ werden. Damit bringen EU Parlamentarier:innen wie Alexandra Geese eine ganze Branche zum Wanken und forcieren einen kräftigen Rückschritt in der aktuellen Entwicklung des Online-Marketing.

Hier versuche ich die Auswirkungen – und das sind neben negativen natürlich aus positive – zu analysieren. Dazu ist auch ein kurzer Einstieg in die Historie notwendig.

TOFU MOFU BOFU - Ziele

TOFU MOFU BOFU – Ziele

Datenschutz vor 2000: IP-Adresse nicht speichern?

Im Gegensatz zum linearen Fernsehen und gedruckten Presseartikeln ist das Internet ein interaktiver Medienapparat. Kommunikationswissenschaftlich würde man wahrscheinlich schreiben „ein Transmissions-Medienapparat“, weil die Basistechnologie TCP/IP die Transformation von bisher bekannten Medien auf das Netz erlaubt und noch weitere hinzufügt. Dies detailliert auszuführen, wäre hier fehl am Platz. Wichtig ist, dass Inhalte und Funktionen abgerufen werden. Durch diesen Abruf muss eine Adresse angegeben werden, an die Inhalte übertragen werden – die IP-Adresse. Schon in den 90ern wurde die Speicherung dieser Adresse diskutiert. Man bezeichnete sie als Personen-beziehbares Element und untersagte damit die Speicherung. Für Unternehmen selbst war die Lage durchaus schwierig: Während der Datenschutz(-Beauftragte) die Speicherung verbot, war es aus Gründen der Datensicherheit (auch ein Teil des Datenschutzes) erforderlich, die Adresse zu speichern, um eventuelle Gesetzesverstöße nachverfolgbar zu machen. Bei dieser Geschichte hatten und haben die meisten Unternehmen nicht die Möglichkeit, an personenbezogene Daten ohne Einschaltung eines Netzbetreibers zu kommen. Ich habe den Sinn dieses Verfahrens nicht ganz verstanden und hatte den Eindruck, dass die verschiedenen Abteilungen des Gesetzgebers sich untereinander nicht ausreichend abstimmten. Für Unternehmen war die Lage auf jeden Fall sehr unbefriedigend.

Ohne Cookie geht Bequemlichkeit verloren – durch Consent-Management auch

Aber was entsteht durch ein solches Verfahren? Wenn über IP Adressen geredet wird und es an dieser Stelle eine gewisse Rechtsunsicherheit gibt, dann wendet man sich Cookies zu. Dies wiederum wirkt nach exzessivem und ausspähend – oft auch sehr ungeschicktem – Einsatz in ihrer Verwendung eingeschränkt. Für Nutzer:innen des Safari Browser verschwinden seit geraumer Zeit Warenkörbe auf Websites nach maximal 24 Stunden, wenn sie diese im nicht eingeloggtem Zustand angelegt haben und diese auch so ein weiteres Mal ansehen wollen. Wir quälen uns mit Cookie-Bannern herum. Und wenn wir in die Details gehen – selbst bei solchen kritischen Verlagen wie dem Spiegel oder Heise  – wird uns unwohl, bei dem was wir hier sehen. Normalnutzer:innen verstehen nicht (!), was Einträge wie 90Degree bedeuten, haben überwiegend nichts davon gehört und wollen auch nichts davon wissen. Dennoch sollen sie ihr Einverständnis wie in dem folgenden Banner von Heise geben. Wirklich störend an diesen Verfahren ist, dass das Einverständnis aufgrund der kurzen Cookie-Laufzeiten quasi täglich gegeben werden muss. Das nervt einfach nur. Verböte der Gesetzgeber Micro-Targeting, wäre man die Cookie-Banner vielleicht wieder los – vielleicht.

Heise Consent Banner

Heise Consent Banner

 

Auf der anderen Seite wird das Cookie sicher nicht wieder in der übrigen, nicht dem Targeting gewidmeten Breite, legitimiert. Zu verbrannt ist der Ausdruck. Zwei Dinge erstaunen mich wirklich sehr an der etwas verworrenen Cookie-Lage:

  • Warum wurde nicht darüber nachgedacht, wie der Consent sicher im Lesegerät gespeichert werden kann? Dies betrifft nicht nur den Gesetzgeber, sondern auch die Browser-Hersteller sowie die im Consent-Management tätigen Unternehmen.
  • Es ist ein Hase-und-Igel Spiel. Sobald ein Verfahren verboten wird, beginnt die Suche nach Alternativen. Diese sind dann meist noch fieser als das ursprüngliche Verfahren.

Wie wird die Lage für das Online-Marketing genau aussehen?

Ganz egal – Micro-Targeting, gleich durch welches technische Verfahren soll verboten werden. Hierdurch stellt sich zunächst eine Reihe von Fragen:

  • Dürfen die Techniken dann noch für andere Zwecke eingesetzt werden? Wir wollen das Internet ja nicht völlig kaputt machen.
  • Ab welcher Grenze von Nutzer:innen in einer Kohorte handelt es sich um Mikro-Targeting?
  • Ist Re-Marketing auch Mikro-Targeting?
  • Was darf Amazon auf seiner Plattform noch machen? Sind Produkte, die sich andere Kunden angeschaut haben, schon Mikro-Targeting?
  • Wie wird sich durch die Anpassung der Gesetzeslage die Möglichkeit zur Werbung auf Marktplätzen verändern? Argumentativ hängt die Werbung dort an Produkten. Sind dies auch Umfelder?
  • Stichwort Kundenkarten: Ist die allgemeine Payback-Karte betroffen? Wie ist das mit spezielleren Karten, wie z.B. der von Douglas? (Achtung: Douglas ist bereits ein Marktplatz.)
  • Was passiert mit Unternehmen, die sehr spezielle Leistungen anbieten und deren Geschäftsmodell auf den Möglichkeiten des Mikro-Targeting basiert?
  • Sind Hashtags nicht auch schon Mikro-Targeting?

Die Liste würde noch sehr lange werden. Letztlich sollte sich der Gesetzgeber mit all diesen – vorwiegend externen Effekten – seines Agierens auseinandersetzen. Grundsätzlich ist es eben so, dass es für die Nutzer tatsächlich Vor- und Nachteile durch Mikro-Targeting gibt. Gerade auf Instagram habe ich selbst sehr viele tolle neue Produkte gefunden, die mir wirklich sehr gefallen und mich zufrieden machen. Auf diese müsste ich ohne die Targeting-Verfahren zukünftig verzichten.

Alexandra Geese von den Grünen weist andererseits völlig zurecht auf die negativen Aspekte hin. Ob man nun den nach meiner Einschätzung völlig überbewerteten Einsatz von Cambridge Analytica bei den US-Wahlen 2016 als Beispiel nennt oder die Auswirkungen von Social Media beim Sturm auf das Kapitol in Washington – negative Auswirkungen gibt es auf gesamtgesellschaftlicher, aber auch auf persönlicher Ebene. So bedürfen bestimmte Attribute, wie Krankheiten oder sexuelle Vorlieben eines besonderen Schutzes und dies nicht nur innerhalb des Netzes. Ich persönlich fände ein stark differenziertes Vorgehen angebracht: Wie kann man das Negative wegschneiden und die Vorteile für den Nutzer beibehalten?

Ansatzpunkte zur Lösung: Micro-Targeting ist nicht immer der Königsweg!

Auch dazu gibt es mehrere Ansatzpunkte: Die Verlegerverbände finden es natürlich ganz toll, dass die Grünen hier einen Vorstoß wagen. Warum? – Ganz klar ausgedrückt haben Verleger und auch Rundfunksender viele Jahre verschlafen und es nicht geschafft, gemeinsam Mikro-Targeting erlaubende Systeme zu bauen. Europa ist hier zu stark parzelliert und alle kochten ihr eigenes Süppchen. Jetzt, da es nicht mehr anders geht und die Plattformen einen Großteil des Werbegewinns abschöpfen, sind sie ganz froh, dass Werbeplanung wieder zur Umfeldplanung werden soll. Google, Facebook und Amazon sollen aus dem Geschäft raus. Springer, Burda, Süddeutscher Verlag etc. sollen mehr Werbeumsätze für sich reklamieren dürfen. Es geht hierbei also eigentlich um eine ganz andere Fragestellung: Wie kann die Abschöpfung des Gewinns durch Plattformen begrenzt werden? Dies betrifft nicht nur den Werbemarkt: AirBnB schöpft den Gewinn der Eigentümer von Ferienwohnungen ab, Uber den von Taxifahrern etc. Die Gesetzeslage hier anzupassen, hätte viel weitreichendere wirtschaftliche Folgen als dies per Tracking-Verbot auf dem Werbemarkt anzustreben. Hier gibt es bereits Vorschläge von Wirtschaftswissenschaftlern: Joseph Stiglitz‘ „Der Preis des Profits: Wir müssen den Kapitalismus vor sich selbst retten!“ (2020) und Mariana Mazzucatos „Wie kommt der Wert in die Welt? – Von Schöpfern und Abschöpfern“ (2019) bieten hier brauchbare Ansatzpunkte. Aus meiner Sicht sind diese nachhaltiger als dem Schlagwort von Shoshana Zuboffs „Überwachungskapitalismus“ (2018) nachzulaufen – auch wenn dies sachlich im ersten Moment einleuchtend ist.

Verlagerung in den Browser?

Gerade durch die Verlagerung des Tracking in den Browser wird aber Google, das dieses andere Verfahren ermöglichen könnte, ein zusätzlicher Machtgewinn zuteil. Das Unternehmen müsste, damit seine Macht im Werbemarkt nicht weiter zunimmt zerschlagen werden, wenn der Chrome-Browser das funktionale Äquivalent der Cookies wird. Das sollte auch so sein, wenn die Kohortengröße minimal 5.000 Elemente beträgt.

Wie ist es um die Qualität der Micro-Targeting Daten bestellt?

Schaut man aus der Sicht des Marketings auf die Lage, so ist es wirklich verwunderlich, wie sich das sogenannte Performance Marketing auf die Daten von Google, Facebook oder auch von Amazon verlässt, ohne diese stärker zu hinterfragen. Besonders wenn es um Markenbildung geht – man sich also weitgehend TOFU – Top of Funnel – befindet, ist die Qualität der Daten, auf die man sich bezieht ausgesprochen wichtig, wie auch die Tatsache, dass die Vermutung hinsichtlich der anzusprechenden Zielgruppe richtig ist und man sich nicht irrt. Meistens wird das, was buchbar ist, aus relativ intransparenten Attributen zusammengesetzt. Wenn ich beispielsweise bei Amazon nachfrage, wie ein Attribut zustande kommt, können mir die Verkäufer keinerlei Auskunft dazu geben ­sie wissen es schlichtweg nicht. Bittet man darum nachzufragen, weiß das Personal nicht, an wen es sich wenden soll. Es ist ein Herantasten – Trial and Error. Gerade deshalb irritiert es mich schon sehr, dass der Schulterschluss zwischen klassischen Planern, bei denen die Wirkung der werblichen Maßnahme über das Umfeld definiert wird – und Performance Marketern, die sich auf die Attribute der DSPs verlassen ­ kaum zustandekommt.

TOFU – MOFU – BOFU

Wenn ich im Funnel weiter unten bin – MOFU – dann ist das mit Performance und Mikro-Targeting schon einfacher. Ein Beispiel: Hat ein Cookie seine Wohnadresse geändert, ist es also vielleicht von Köln nach Düsseldorf gezogen, dann ergeben sich daraus natürlich bestimmte nachgelagerte Verhaltensweisen. Die Wahrscheinlichkeit, dass über ein solches Cookie Einrichtungsgegenstände gekauft werden, ist einfach höher als bei einem Cookie, das den Wohnort seit fünf Jahren nicht geändert hat. Mit Maßnahmen zur Markenbildung ist man hier oft zu spät. Dennoch können diese sinnvoll sein. Oft vergehen Monate oder Jahre, bis die Einrichtung inklusive der Beleuchtung vollständig ist.

Ganz anders wird in der Regel BOFU verfahren, am Boden des Funnel. Im Rahmen des Retargeting werden Produkte oder vielleicht auch Jobs gezeigt, die zu den angesehenen Objekten auf einer Website passen. Aus meiner Sicht ist unverständlich, dass an dieser Stelle in Zeiten sinkender Öffnungsraten beim Newsletter-Marketing nicht auch in Richtung Branding geworben wird. Aber das ist ein ganz anderes Thema.

Auf klassische Forschungsmethoden zurückgreifen hilft!

Methodisch am spannendsten ist der TOFU-Bereich. Hier sind wie geschrieben, die Targeting-Optionen vorhanden. Ob diese tatsächlich so perfekt sind, wie diese vorgeben, ist jedoch fraglich, weil vielfach intransparent. Wieso greift man nicht auf Erkenntnisse der Werbewirkungsforschung der vergangenen 50 Jahre zurück? Gerade in der Printforschung wurde viel über den Zusammenhang von Umfeld und Werbewirkung geforscht. Die Fernsehforschung musste in Zeiten eines sich immer stärker parzellierenden Programmmarkts Korrelationen zwischen konsumierten Inhalten und der Werbewirkung auf bestimmte Zielgruppen belegen. Es ist eben tatsächlich so, dass die Nutzung bestimmter Medieninhalte und auch Musik stark mit dem Konsum bestimmter Produkte korrelieren. Der Vorteil bei solchen Verfahren besteht in seinen Unschärfen. Neben Kernregionen franst die Zielregion nach außen einfach aus. Es ist keine boolsche Logik – umgezogen „Ja“ oder „Nein“ und dann wird die neue Wohnzimmereinrichtung gekauft, als Tante Frieda 15.000 Euro aus ihrem Sparstrumpf überreichte. Sprich: Wenn wir nur mit Mikro-Targeting unterwegs sind, kann es passieren, dass wir wichtige Teile unserer wahren Zielgruppe im Markt aus unseren Kampagnen herausdefinieren. Genau dies darf nicht sein. Ein gesunder Mittelweg, ohne bei den Kund:innen zu aufdringlich und ausspähend zu werden, ist aus meiner Sicht langfristig am erfolgversprechendsten.